Montag, 9. Juni 2014

Boyhood


What do you want to be, Mason? What do you want to do?



Richard Linklater, 9.5/10 (Die Wertung fällt mir hier extrem schwer, Tendenz mit Sicherheit steigend)

Es fällt mir schwer, über diesen "Film" zu schreiben, denn ist es überhaupt ein richtiger Spielfilm, oder vielmehr eine Dokumentation mit Schauspielern? Das mag jetzt bescheuert klingen, denn Dokumentationen spiegeln das reale Leben wider, natürlich von einer Kamera mehr oder weniger ersichtlich aufgenommen. Das, was eine Dokumentation ebenso, und in diesem Falle besonders, auszeichnet, ist der Umstand, dass Veränderung und Wandel gezeigt werden im Verlauf der Zeit. In einem Spielfilm ist dies nur schwer machbar, denn es werden in 99% der Fälle ein fester Ablauf mit etwa 20-40 Drehtagen angesetzt. So weit die Regel, dieser Film ist aber komplett anders, er gehört zu dem einen Prozent (was ihr natürlich schon erraten habt, ihr schlauen Leser).

Wir verfolgen Mason (Ellar Coltrane), einem sechsjährigen Jungen, bei einer alltäglichen Situation. Seine Mutter holt ihn nach der Schule ab und er liegt auf dem Rasen, wundert sich über die Geschehnisse in der Welt. So weit so gut. Wir sehen seiner Schwester Samantha (Lorelei Linklater) und Mutter Olivia (Patricia Arquette) dabei zu, wie sie nach Hause fahren und ein gewöhnliches Leben führen. Schnitt. Bruder und Schwester sind gewachsen, die Familie ist nach Houston umgezogen, was sie in der ersten Szene besprochen haben, im Moment packen sie Kartons und Kisten aus, richten sich neu ein. Schnitt. Mason Sr. (Ethan Hawke), der Vater von Mason und Samantha kommt zu Besuch. Es ist Wochenende, die einzige Zeit, in der er die beiden besuchen darf, da er von seiner Frau geschieden ist. Er macht einen Ausflug mit den beiden. Komplett normale Szenen, doch sind sie so anders, als man es von gewöhnlichen Filmen gewohnt ist.

Der Film wurde über den Verlauf von 12 Jahren gedreht!!! Jeweils ein paar Drehtage pro Jahr. Der Zuschauer sieht die Schauspieler buchstäblich älter werden, ohne Tricks. Mason wächst vom kleinen, verspielten Jungen zum reifen College-Studenten. Der bislang unbekannte Schauspieler Ellar Coltrane spielt hervorragend und ich bin wirklich gespannt, wohin sein schauspielerischer Weg  ihn führen wird. Seine Schwester Samantha wird von der Tochter des Regisseurs gespielt, die ihn so lange genervt hat, bis sie selbst in einem Filmen mitspielen durfte. Dass es so lange Zeit dauern sollte, bis das Drehen beendet werden würde, war ihr bestimmt nicht bewusst gewesen (sie wollte sogar, dass ihre Figur stirbt, denn sie hatte keine Lust mehr, weiterzudrehen - Pubertierende Mädchen sind manchmal schwierig...). Ethan Hawke ist mit Sicherheit einer der Schauspieler, die am meisten mit Linklater gedreht haben, ist er doch schließlich der Star der "Before"-Trilogie (über die ich demnächst mehr schreiben werde).

Man merkt jedem Teil des Ensembles an, dass sie unglaublich Spaß beim Drehen gehabt haben müssen, alle spielen ihre Parts ganz ausgezeichnet. Stellvertretend sei auf die hervorragende Arbeit von Marco Perella als Bill hingewiesen, der als zweiter Ehemann von Olivia eine sensationelle Darstellung eines Mannes abgibt, der von allem gelangweilt scheint und letztlich dem Alkohol verfällt. Es gab zwei Szenen mit ihm, wo mir wirklich der Atem stockte, so intensiv waren sie gefilmt.

Doch die größte Aufmerksam gebührt Richard Linklater, der sich Hoffnung auf jegliche Preise in der kommende "Award Season" machen darf. Solch ein ambitioniertes Projekt hat bislang noch niemand in Hollywood realisiert und es ist nicht nur ein Musterstück, eine Spielerei eines Regisseurs und Autors, der sich gedacht hat: "Machen wird einfach mal einen Film über ein paar Jahre und gucken was passiert", sondern der Film ist wirklich herzergreifend und die Figuren möchte man am liebsten noch sehr viel länger begleiten. Als Mason in der letzten Szene als junger Mann zum College aufbricht und dabei wie Ethan Hawke (sein filmischer Vater) in "Before Sunrise" aussieht, hätte ich am liebsten applaudiert, ein genialer Einfall in einem Film voll von solchen Momenten. Die Gefühle, die hier transportiert werden, sind schwer zu beschreiben, sie treffen etwas im Inneren eines jeden Zuschauers und jeder fühlt sich in in der einen oder anderen Szene an die eigene Kindheit erinnert.

Eine Bewertung fällt mir wirklich schwer, zur Höchstwertung reicht es nicht, dafür ist der Film zu fragmentarisch und man hätte sich gewünscht, dass er in manchen Zeitzonen noch länger geblieben wäre. Die Ausstattung ist phänomenal, es werden Geräte und Stile der jeweiligen Zeit präsentiert (Spielkonsolen oder Kleidungsstücke) und auch die Musik ist stets passend, von Coldplays "Yellow" über Blink 182, hin zu Arcade Fire am Schluss, ein Ausschnitt aus zwölf Jahren Musikgeschichte.

Wenn ihr also einen Film sehen wollt, der wirklich ans Herz geht, dabei aber genauso gelacht wird, der ist hier genau richtig. Lasst euch von der langen Spielzeit nicht abschrecken, der Film vergeht wie im Fluge. Zu sehen ist er zum Beispiel in der "Camera" in der Mallinckrodtstraße in Dortmund.

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